Stufen der Meditation
Die Meditation mit einem Spruch, einem Bild, einem Gedanken oder einer Wahrnehmung kann durch verschiedene Stufen geführt werden, die sich an den drei höheren Bewusstseinsstufen Imagination, Inspiration und Intuition orientieren. Zwar wird man es dabei zunächst mit Vorstufen zu tun haben, die noch nicht als vollgültige Imaginationen, Inspirationen oder Intuitionen gelten können, die diese aber vorbereiten, weil sie bereits erste Schritte in die neue Bewußtseinsform hinein sind.
In einer ersten Annäherung lassen sich die Bewußtseinsstufen mit den vier Elementen vergleichen. In unserem gewöhnlichen Gegenstandsbewußtsein stehen wir der Welt äußerlich und getrennt gegenüber, und die Mittel, mit der wir ihr erkenntnismäßig begegnen, sind das Wahrnehmen durch unsere Sinne und die denkende Verarbeitung dieser Sinneseindrücke bzw. das abstrakte Nachdenken über die Welt. Das Verhältnis zwischen Ich und Welt lässt sich vergleichen mit dem Verhältnis fester Körper zueinander.
Imagination
Eine erste Verflüssigung dieser festen, abgegrenzten Bewußtseinsform geschieht durch die Imagination. Die Imagination arbeitet mit vergleichsweisen, symbolischen, künstlerischen und bisweilen auch phantasievollen Charakterisierungen für die Sinneswahrnehmungen und die Gedanken, in denen die Welt nicht abgebildet wird, sondern eine Qualität zum Ausdruck gebracht wird. So bringt zum Beispiel die runde Abgeschlossenheit des menschlichen Hauptes eine Qualität des Kopfmenschen zum Ausdruck, ebenso wie die strahligen sich qualitativ bis ins Unendliche erstreckenden Gliedmaßen eine Qualität des Willensmenschen zum Ausdruck bringen. Ein anderes Beispiel, von Steiner in Spruchmeditationen immer wieder verwandt, ist die vergleichsweise Charkteristik einer Idee wie Weisheit oder Liebe mit Licht oder Wärme. Solche bildhaften Vorstellungen lösen die Abgegrenztheit des gewöhnlichen Bewußtseins auf; im Leben mit solchen Vorstellungen zeigt sich schnell, dass sie uns anders, beweglicher ergreifen und uns auch anders mit dem Wahrgenommenen und Bedachten verbinden. Die Imagination lässt sich mit dem Flüssigen, das einander umspielt, aber noch nicht durchdringt, vergleichen.
Inspiration
Die Inspiration nun hat zu ihrer Grundlage das menschliche Fühlen, und qualitativ lässt sich diese Bewußtseinsform mit dem Luftigen vergleichen. Die Luft wird ein-, aber auch wieder ausgeatmet, sie schafft eine vorübergehende Durchdringung. Dies ist auch der Fall, wenn die gewonnenen imaginativen Eindrücke gefühlsmäßig bearbeitet werden. Nun fällt der Bezug zur äußeren Sinneswelt, den die Imaginationen noch hatten, weg. Die Inspiration wird nur noch innerlich und übersinnlich erlebt. Sie spricht in uns wie ein Gefühl, das wir umgebildet haben zum Wahrnehmungsorgan, das also nicht unsere derzeitige Stimmung charakterisiert, sondern sich geweitet hat, um den Gegenstand der Meditation wirklich zu durchfühlen.
Intuition
Die Intuition hat zu ihrer Grundlage den menschlichen Willen. Sie lässt sich mit der Wärme vergleichen. Die Wärme durchdringt Ich und Welt gleichermaßen, sie hebt – auf lange Sicht – die Trennung und den Unterschied auf. In der Intuition werden Ich und Welt eins, gehen ineinander auf und über. Jede Gegenständlichkeit ist aufgehoben und umso flüchtiger ist zunächst der Eindruck und umso schwieriger zu erfassen und zu halten.
Geht man in dieser Weise vor, so werden für einen Gedanken oder eine Wahrnehmung Vergleiche, Bilder, Symbole gesucht oder soweit sie bereits in Steiners Anregungen vorgebildet sind, aufgesucht. Diese Bilder werden dann auf imaginativer Ebene zum Meditationsinhalt. Können sie im Bewußtsein lebendig anwesend sein, so können sie dann auch dem Gefühl übergeben werden, das sie allmählich zur inspirativen Bewußtseinsform umformt. Gelingt es da, die Gefühle wirklich zu halten und sich ganz mit ihnen zu durchdringen, so wird die Übergabe an die intuitive Schicht vorbereitet. Durch den Durchgang durch ein sich leerendes Bewußtsein kündet sich hinter dem immer noch selbstgebildeten Gefühl die wesenhafte Realität dessen an, was sich durch Gefühl, Bild und Gedanke oder Wahrnehmung wie vorbereitet hat.
Ein leeres Bewußtsein auch als solches zu üben hat Steiner nicht gezielt angeregt. Das leere Bewußtsein ist in Steiners Perspektive eine Art Übergangszustand zwischen den verschiedenen Bewußtseins-Stufen und –Aktivitäten.
Der ganze Prozess vollzieht sich in einem Pendelschlag zwischen innerer Aktivität bzw. Produktivität einerseits und Hingabe bwz. Empfänglichkeit andererseits, oder anders ausgedrückt: zwischen Fokussierung und offenem Gewahrsein. Das Verhältnis dieser beiden Pole zueinander ist geeignet, die Meditationsansätze verschiedener Zeiten und Strömungen zu charakterisieren; auch innerhalb der Anthroposophie gibt es hier Unterschiede, bspw. zwischen der mehr auf Empfänglichkeit hin orientierten Bildekräfteforschung oder dem mehr auf Produktivität hinorientierten Goetheanismus. Allgemein gesagt wird durch die aktive Produktivität das Organ für die Empfänglichkeit ausgebildet; damit das Organ dann aber auch tatsächlich wahrnehmen kann, muss die aktive Bildung des Organs losgelassen und dieses sozusagen geöffnet werden, damit die geistige Wirklichkeit in es einströmen kann.
Die prägnante Gliederung in die verschiedenen Bewußtseinsstufen ebenso wie die Unterscheidung zwischen Produktivität und Empfänglichkeit sind methodische Hilfsmittel, die beim Lernen anthroposophischer Meditation ebenso hilfreich sind wie beim Erfassen und Zuordnen übersinnlicher Eindrücke. Im Laufe der Zeit werden sich die verschiedenen Stufen aber durchdringen und gegenseitig tragen.
Literatur:
Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss (1909). Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt (1916). Von Seelenrätseln (1917). Kosmologie, Religion und Philosophie (1922).
Über die drei Bewußtseinsstufen finden sich Ausführungen in fast allen allgemeinen Darstellungen zur anthroposophischen Meditation und zum Schulungsweg (-> Literatur).
Mit dem leeren Bewußtsein hat sich immer wieder Georg Kühlewind beschäftigt, in den meisten seiner Bücher ist davon die Rede, so auch in „Meditationen über Zen-Buddhismus, Thomas von Aquin und Anthroposophie“ und in besonderem Maße in „Licht und Leere“.
Speziell zu Produktivität und Empfänglichkeit siehe auch Anna-Katharina Dehmelt „Meditation und Forschung I„, Die Drei 3/2009 und Johannes Wagemann „Meditation, Forschungsmittel und Entwicklungsweg“, RoSE Vol. 2 Nr. 2 Dezember 2011