Michael Eggert: Den Spiegel reinigen
Mich wundert immer etwas, dass so viel und gern, wenn es um meditatives Erleben geht, von „leibfreier“ Erfahrung gesprochen wird. Das ist einfach so ungenau. Es ist ja nicht so, dass wir einerseits im Leib „stecken“ und uns dann – in einem Ausnahmezustand – daraus befreien würden. Wir „stecken“ als Menschen nicht fest, sondern justieren uns als Welt-Leib-Wesen dauernd neu. Im Wahrnehmen des Gleichgewichts und der Schwere, in der Wahrnehmung des Anderen, im Empfinden der Qualität des Lichts, ja selbst in dem Nachfahren der Gebärde einer Pflanze „leben“ wir dauernd „in der Welt“. Sollten wir tatsächlich „fest stecken“ – was z.B. durch bestimmte Medikamente künstlich erzeugt werden kann – verlören wir Gleichgewicht und Selbstgefühl, fielen um, würden ohnmächtig oder würden uns durch eine epileptische Entladung befreien. Die Empfindung, „im Leib“ zu sein, entsteht durch die dauernde Rückmeldung unserer Sensorik – etwa in Bezug auf die körperliche Oberfläche und ein gewisses leibliches Selbstempfinden, also durch die „unteren Sinne“. Das Sich-Selbstempfinden, die Identifikation mit dem leiblichen Sein, zieht einen Großteil unserer Aufmerksamkeit an sich. Die Bindung und Bannung unserer eigentlich freien Aufmerksamkeit durch das körperliche Gefühl zersplittert diese und verhindert die freie, d.h. formfreie Konzentration. Im Meditativen geht es darum, diese Rückmeldungen zeitweilig abzustellen, um die ungeteilte Aufmerksamkeit zu erfahren und uns selbst in ihr. Das bringt ungeahnte Energien mit sich, ja einen regelrechten Starkstrom von reiner Kraft.
Diese Befreiung gelingt schrittweise und ist spürbar in der Aktivierung der wesentlichen Chakren, vom Stirnbereich über den Kehlkopf, vom Herz bis hin zum Nabel. Mit der Aktivierung des Herzchakras beginnt das Erleben ungeteilter Aufmerksamkeit und existentiell strömender Energien. Die Loslösung von den Rückmeldungen der Körpergrenzen gelingt wohl erst ganz auf der Ebene der Nabelkraft. Erst dann kommen wir zur Erfahrung des „unberührbaren Wesens“ oder der Reinheit des „Spiegels“.
Jenseits der Rückmeldungen unserer biologischen Entität – im „Leibfreien“- sind wir in der Formlosigkeit, in der Leere, aber keinesfalls in einem Nichts. Im Gegenteil; dies ist der Bereich, in dem die Quellen entspringen, der Bereich der Potentialität. Hier erst haben wir die Kraft, formfreie Energien zu begleiten. Sie sind immer da, aber wir waren faktisch bislang abgelenkt – unser „Spiegel“ war getrübt. Die Trübung entsteht durch die Aufsplitterung der Aufmerksamkeit. Wir können diese Vielfalt gleichzeitiger Beanspruchung und Wahrnehmung beim Autofahren erleben. Dabei schauen wir nicht nur in jede Richtung, sondern projizieren unsere Körpergrenzen auf das Gefährt, dessen Außenmaße unsere Körpergrenze einnimmt, relativ zum Straßenrand, dem fließenden Verkehr und unserer Geschwindigkeit. Das Auto wird zu unserem Leib. Es ist eine Projektionsfläche. Unseren eigenen Körper empfinden wir nicht, sonst wäre die zerstreute Aufmerksamkeit gefährlich verengt.
Was im Straßenverkehr die Diversifikation unserer Aufmerksamkeit genannt werden kann, wird in der meditativen Erfahrung zur entgegengesetzten Bewegung: Es geht hier um die inhaltsfreie Fokussierung, um das Durchgehen durch einen Nullpunkt, auf dessen anderer Seite neue Dynamiken entspringen- auch in Bezug auf die Kraftpunkte unserer erweiterten Leiblichkeit, die Chakren.
Michael Eggert ist Autor und Blogger